Am Beginn des Gesprächs kann man erahnen, welche Sozialisation Longerich durchlaufen hat im Münchener „Institut für Zeitgeschichte“, wo er 80.000 Dokumentseiten in 8.000 Exzerpte verwandelt haben will. Man könnte vermuten, dass Longerich entweder uns vieles nicht erzählt, was er mittlerweile erfahren und gelernt hat; oder dass er den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.
Interviewer Charles Lewinsky legt eine Art an den Tag, die Longerich möglicherweise eine gut versteckte Ironie widerfahren lässt. Wie mit großer Vorsicht und ohne anschließende Widerrede fragt er den Autor der Biografien von Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und nun auch Adolf Hitler, ob er denn jemals etwas Besonderes entdeckt habe bei seinen viele Jahre währenden Recherchen. Die Antwort lautet schlicht: Nein. Dafür ist Longerich aber verhältnismäßig mitteilsam gegenüber Bibliotheksregalen, im Fall der neuen Hitler-Biografie 1296 Seiten lang.
Zur Ironie Lewinskys gehört, dass, nachdem er Longerich unauffällig zu dem Eingeständnis gebracht hat, dass es in seinen gut beworbenen Büchern eigentlich nichts wirklich Neues zu erfahren gebe, zu grundsätzlichen Aussagen ermuntern will, von denen Longerich dann andeutet, sie seien möglicherweise komplex, worauf Lewinsky befindet: „Im Notfall machen wir eine zweite Sendung.“
Bei allem, was davor schon gesagt wurde und was danach folgt, denkt man sich dazu: Vielleicht gar nicht notwendig.
Lewinsky stellt die Frage in den Raum, „wie das passieren konnte, dass ein ganzes Land, das sich ja selber als ein Land der Dichter und Denker verstand, zum Land der Richter und Henker wurde, ein Land wurde sozusagen, dass ein ganzes Land eigentlich den Verstand verloren hat?“ Longerich macht bei der Akademie den Diener, indem er behauptet, die Geschichtswissenschaft habe hierauf mittlerweile „gute Antworten“.
Lewinsky weist ihn darauf hin: „Wir sind in einem Sendegefäß, wo auch komplexe Fragen angesprochen werden können.“ Ich weiß nicht, ob das eine Schweizer Redensart ist, das „Sendegefäß“. Man sollte dabei jedenfalls nicht vergessen, dass Lewinsky aufgrund seiner jüdischen Herkunft damit vertraut sein könnte, dass die „Gefäße“ ein zentrales Bild in der Mystik der Kabbala sind. Und vielleicht hat die jüdische Geschichte und Esoterik noch wesentlich mehr mit dem Hitler-Reich zu tun, als dies bisher bekannt ist – und uns von Autoren wie Longerich mitgeteilt wird. Auch Lewinsky hat zum Dritten Reich publiziert („Hitler auf dem Rütli“, 1984, mit Doris Morf).
In einem Satz wird von Longerich als Antwort lapidar bemerkt, es sei mit dem NS „eine neue Massenbewegung entstanden“, die die etablierte politische Rechte vergeblich versucht habe, für sich zu vereinnahmen.
Es gilt über eine Fülle von außen-, innen- und kryptopolitischen, ideologischen und personellen Faktoren zu sprechen, wenn man diesen historischen Prozess umfassend beleuchten und verstehen will. Longerich benennt sicher ein paar der Umstände richtig, unter denen dann 1933 die Machtübernahme durch die Nazis stattfand und das Dritte Reich sich gestaltete. Doch ganz schnell ist er dann beim Personalpronomen „sie“ für die Nazis, die als isoliertes souveränes Handlungssubjekt erscheinen.
Ob dem so war, kann man bezweifeln. Von einigen der im Gespräch folgenden Erläuterungen kann man etwas lernen über die Gruppierungen und Institutionen des Nationalsozialismus. Von Einflussfaktoren außerhalb der deutschen Reiche vor 1933 und danach erfahren wir hier nichts. Ebensowenig über die okkultistischen Anwandlungen, die bei Longerichs Thema Heinrich Himmler gut belegt sind – und keine ganz unwesentlichen Begleitumstände von Himmlers politischem Handeln waren. Auch für Hitler ist Vergleichbares erst noch weitergehend zu erarbeiten.
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